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Unconscious Bias im Recruiting
Warum wir diskriminieren, ohne es zu wollen

„Wir entscheiden anhand von objektiven Kriterien.“ Einen Satz wie diesen hören wir im Recruiting häufig. Die Forschung aber sagt uns, dass wir in der Personalauswahl häufig voreingenommen agieren. Immer noch erleben Frauen, Menschen mit nicht weißer Hautfarbe oder fremd klingenden Namen Nachteile bei der Arbeitssuche. Dabei handelt es sich nicht immer um bewusste Diskriminierung. Vielmehr sind es „Unconscious Bias“, die uns zu Fehlschlüssen verleiten. Wie Unternehmen falsche Entscheidungen im Recruiting reduzieren können, beschreibt dieser Beitrag.
Was sind „Unconscious Bias“?
Als Unconscious Bias werden unbewusste Vorannahmen bezeichnet, die sich auf unser Verhalten und unsere Entscheidungen auswirken. So lässt uns etwa ein fremd klingender Name vielleicht vermuten, dass diese Person weniger Kompetenzen oder Sprachkenntnisse hat. Genauso kann es sein, wenn wir eine Behinderung wahrnehmen. Aber sogar das Geschlecht macht einen Unterschied in der Beurteilung von Menschen und ihrer Potenziale. So werden etwa durchsetzungsstarke Frauen häufig genau für dieses Verhalten, das bei Männern mit Führungskompetenz gleichgesetzt wird, als „verbissen“ abgestraft.
Im Recruiting führt das dazu, dass wir Potenziale von Menschen möglicherweise verkennen beziehungsweise ihnen von vornherein weniger Chancen einräumen.
Woher kommen unbewusste Vorurteile?
Machen Sie einen Selbstversuch. Bitte lesen Sie folgende kurze Angabe und nennen Sie für sich dann spontan jene Antwort, die Ihnen dazu als Erstes in den Sinn kommt:
Eine Schraube und die dazugehörige Schraubenmutter kosten zusammen 1,10 Euro. Alleine kostet die Schraubenmutter 1 Euro weniger als die Schraube. Wie viel kostet die Schraubenmutter?
Die überwiegende Anzahl der Menschen kommt hierbei zum Ergebnis: 10 Cent. Das ist jedoch falsch! Die korrekte Antwort wäre 5 Cent. Denn wenn die Schraubenmutter 5 Cent kostet, ist das um einen Euro weniger als die Schraube, die demnach 1,05 Euro kostet, was zusammen 1,10 Euro ausmacht. Sollten Sie auch zu dem Ergebnis „10 Cent“ gekommen sein, keine Sorge. Es ist alles in Ordnung mit Ihnen. Hier hat Ihnen Ihr unbewusstes „schnelles Denken“ einen Strich durch die Rechnung gemacht. Tatsächlich prozessieren hierbei die wenigsten Menschen tatsächlich eine Rechnung. Diese kann nur bewusst erfolgen. Vielmehr fühlt sich die Antwort „10 Cent“ einfach richtig an, zumal ja in der Angabe die Elemente 1,10 Euro und 1 Euro vorkamen – und nach einer Differenz gefragt wurde.
Unconscious Bias entstehen, wenn unser unbewusstes schnelles Denken mit unserem bewussten – aber viel trägeren – Denken zusammenspielt. Um Energie zu sparen und mit der Komplexität unserer Umgebung zurecht- zukommen, muss unser Gehirn filtern und vereinfachen. Hierbei bildet es Muster, die uns dabei unterstützen, Informationen rasch einzuordnen. Wenn wir aber – wie im Schraubenbeispiel – einen unbewusst gefassten Schluss nicht mehr hinterfragen, kommt es zu Fehlentscheidungen. Etwa im Recruiting, wo sie folgenschwerer sind, wenn wir „ein Bauchgefühl“ haben oder meinen, mit „solchen Menschen schlechte Erfahrungen gemacht“ zu haben.
Über 180 Bias prägen unser Denken
In der Literatur ist eine Vielzahl an Wahrnehmungsverzerrungen und unbewussten Annahmen zu finden. Hier einige Beispiele, die im Recruiting besondere Bedeutung haben:
Confirmation Bias (Bestätigungsfehler): Wir haben im Lebenslauf gelesen, dass der Kandidat an einer renommierten Universität studiert hat. Und tatsächlich! Er sticht im Gespräch wirklich heraus. Gehen wir von einer Annahme aus, so sind wir verleitet, uns unbewusst stark auf die Bestätigung dieser Annahme zu fokussieren. Gleiches passiert etwa auch beim Einkaufen, wenn das teure Markenwaschmittel, das wir uns geleistet haben, dann doch so viel weißer wäscht als die No-Name-Produkte (mit gleichen Inhaltsstoffen).
Halo-Effekt: Haben wir einen fremd klingenden Namen entdeckt oder ein anderes auffallendes Merkmal, so überstrahlt dies rasch die eigentlich wesentlichen Kriterien. Ein Versuch der Uni Linz aus dem Jahr 2016 hat eindrucksvoll gezeigt, dass die Chancen, eingeladen zu werden, mit einem ausländischen Namen drastisch (um über ein Viertel!) geringer sind – bei sonst komplett gleichen Angaben im Lebenslauf.
Rapid Cultural Fit: Bereits nach wenigen Minuten ist uns klar, dass der/die Kandidat:in „einfach zu uns passt“, und schon prüfen wir die Kriterien nicht mehr so genau.
Repräsentativitätsheuristik: Hinter diesem komplizierten Begriff steht das Phänomen, dass wir uns bei einer Entscheidung – etwa darüber, wer als geeignet für die Führungsposition erscheint – gerne davon leiten lassen, wer am ehesten eine Führungskraft repräsentiert (also aussieht wie eine), und weniger davon, wer wirklich die meis-
ten Kompetenzen hat. Dieser Effekt wird besonders Frauen zum Nachteil, zumal es mehr männliche Führungskräfte gibt und die dafür benötigten Eigenschaften männlich konnotiert sind.
Anker-Effekt: Im Bewerbungsgespräch hat er 55.000 Euro Gehalt verlangt, sie 42.000 Euro – für den gleichen Job, der mit etwa 50.000 Euro angesetzt ist. Unabhängig davon, woher diese ungleiche Selbsteinschätzung kommen mag, fühlt es sich für uns befriedigender an, ihn vielleicht auf 52.000 Euro herunterzuhandeln als ihr freiwillig statt der geforderten Summe die eigentlichen 50.000 Euro zu zahlen, was aber nur fair wäre. Die erstgenannte Zahl in der Verhandlung wird immer zum Anker, von dem wir wegrechnen.
Und was nun?
Ein erster Schritt besteht darin, sich bewusst zu machen, dass unsere Entscheidungen Vorurteilen unterliegen können. Schulungen können hier unterstützend wirken. Allerdings ist das längst nicht alles. Denn sich etwas bewusst zu machen, das unbewusst abläuft, erscheint natürlich paradox und gelingt uns, selbst wenn wir uns noch so anstrengen, nur zum Teil.
Um im Recruiting Fehlentscheidungen zu vermeiden, ist es daher nötig, Prozesse systematisch so zu verändern, dass vorurteilsbasierte Entscheidungen schneller auffallen. Wir sprechen hier von Verhaltensdesign. Ein Beispiel wäre: Wenn wir beim Sichten von Lebensläufen statt einer Opt-in-Logik eine Opt-out-Logik anwenden. Üblicherweise nehmen wir uns Bewerbungen vor und entscheiden, wen wir einladen. Drehen Sie diese Logik systematisch um und überlegen sie bei jeder Person, der sie absagen wollen, gründlich, weshalb dies geschieht. Dies lässt uns viel eher erkennen, wenn wir etwa nur aufgrund eines Namens oder Fotos absagen. Natürlich ist es zudem wesentlich, klare Kriterien zu haben, nach denen wir vorgehen und entscheiden. Dies mag sich banal anhören, ist aber oft ein Manko.
Verhaltensdesign kennt man auch aus anderen Lebensbereichen, etwa Hotels, wo die Schlüsselkarten die Stromzufuhr steuern. Das Hotel könnte auch ein Schild auf der Innenseite der Türe aufhängen mit der Bitte, das Licht bei Verlassen auszuschalten und die Mobiltelefone abzustecken. Ein gewisser Prozentsatz folgt dem dann auch. Deutlich mehr Menschen verhalten sich aber wie gewünscht, wenn die Schlüsselkarte beim Verlassen aus dem Schlitz gezogen werden muss und damit der Strom im Zimmer automatisch weg ist. Das ist Verhaltensdesign.
Ein anderes Beispiel aus dem Recruiting betrifft das Anonymisieren von Bewerbungen. Das Foto in der Bewerbung färbt unsere Entscheidung maßgeblich. In vielen Regionen der Erde, etwa im US-Raum, verzichten Unternehmen bereits ganz darauf – ebenso wie auf Angaben zu Religion oder Herkunft. Versuche habe gezeigt, dass Anonymisierungen die Chancen auf eine Einladung für zuvor benachteiligte Personen deutlich erhöhen. Sie verhindern, dass wir aufgrund von unsachlichen Faktoren entscheiden, die nicht zu den Auswahlkriterien gehören.
In Zeiten knapp werdender personeller Ressourcen ist es umso wichtiger, das volle Potenzial zu nutzen. Sich mit Unconscious Bias im Recruiting aktiv auseinanderzusetzen und Recruiter:innen und Führungskräfte entsprechend zu schulen, ist also ein Gebot der Stunde!

// Autor
Peter Rieder
Geschäftsführer, Diversity Think Tank Austria
Dieser Artikel stammt aus der Fachzeitschrift personal manager Ausgabe 2/23 mit dem Schwerpunktthema Recruiting