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Die Mitarbeitenden der Zukunft:
Generalisten, T-Shaped People, Vernetzer und Pioniere

Wir stecken mitten im größten Changeprozess aller Zeiten. Dringender als jemals zuvor benötigen wir nun Talente, die die Wirtschaft durch den Wandel lotsen. Hier kommen Generalisten, T-Shaped People, Vernetzer und Pioniere ins Spiel. Mit frischen Gedanken, einem breiten Rundumblick und unkonventionellen Vorgehensweisen führen sie ihre Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in die Zukunft.
„Wir nähern uns einer postdisziplinären Ära, in der die einzelnen Fachgebiete immer weniger relevant werden und ihre Vernetzung untereinander an Bedeutung gewinnt“, erklärte Ulrich Weinberg, Direktor der School of Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut, kürzlich in der Wirtschaftswoche. Hierfür werden Menschen gebraucht, die Verbindungen schaffen, Separiertes interdisziplinär zusammenbringen, divergierende Interessenlagen synchronisieren und Wege ins Neuland ebnen.
Dazu zählen auch Koordinatoren, die das Zusammenspiel zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz organisieren und Mensch-Maschine-Interaktionen geschmeidig machen. Firmenintern sind technologische Brücken zu bauen, weil die Digitalisierung alle betrifft, sie lässt sich nicht in eine Abteilung sperren. Junge Digitalexpertise und gutes altes Erfahrungswissen müssen ineinander verwoben werden. Die verschiedenen internen Innovationsprojekte brauchen verbindende Elemente. Partnerschaften zwischen Alt- und Jungunternehmen müssen sich sinnvoll zusammenkoppeln.
Alles, was zum Markt hin passiert, müssen Unternehmen crossfunktional abstimmen. Denn eine typische Customer Journey, die Kaufreise des Kunden, verläuft immer quer durch die Unternehmenslandschaft über mehrere Abteilungsgrenzen hinweg. Sie verlangt eine den Kundeninteressen dienende, bereichsübergreifende Zusammenarbeit. Echte Marktorientierung erreichen Unternehmen also nur dann, wenn sie nicht länger im Silodenken verharren. Vielmehr müssen sie ihre Talente in interdisziplinären Teams bündeln und selbstorganisiert an gemeinsamen Aufgaben arbeiten lassen.
Generalisten und T-Shaped People werden fortan dringend gebraucht
Die Interdisziplinären und Horizontal-durch-das-Unternehmen-Agierer spielen von nun an eine entscheidende Rolle. „T-Shaped“ werden solche Personen bisweilen genannt. Symbolisiert durch das T vereinen sie in sich die Fähigkeiten von Spezialistinnen und Generalistinnen. Sie sind im Weitwinkelmodus unterwegs. Neben ihrer eigentlichen Expertise haben sie vielfältige fachübergreifende Interessen, sodass sie ganzheitlicher handeln und multitalentiert einsetzbar sind. Sie haben Kompetenzen in mehreren Arbeitsfeldern und denken in großen Zusammenhängen. Dort, wo ein Experte nur Ausschnitte sieht, bringen sie das Beste aus vielen Bereichen zusammen.
Sie haben ein gutes Gespür für die Komplexität der neuen Wirklichkeit und können Zusammenhänge besser erkennen. Sie agieren wie Brückenbauer, die das Wissen und Können von heute mit der Zukunft verbinden. Experten denken sich tief rein in ein Thema. Generalisten hingegen denken breit. Ihnen kann es gelingen, die besten Ideen von innerhalb und außerhalb des Unternehmens miteinander zu kombinieren. Dies ermöglicht Innovationssprünge in ganz neuen Dimensionen.
Damit eine umfassende Erneuerung einsetzen kann, sind vor allem Vernetzerinnen und Vernetzer vonnöten, die Neugier, Wissensdurst, Forscherdrang, Pioniergeist und Experimentierfreudigkeit zeigen. Mut, Biss und Durchhaltevermögen sind unverzichtbar, um auf unbekanntem Terrain triumphieren zu können. Zudem brauchen die Unternehmen Talente, die sich als Vorreiterinnen und Nonkonformisten, als Pionierinnen und ambitionierte Zukunftsgestalter ins Neuland wagen, um im Wirtschaftsgeschehen der Zukunft eine Rolle zu spielen.
Bitte etwas mehr Mut: Mit Klonen kommt man in Zukunft nicht weit
Nachdem also Generalisten, Neudenker und Andersmacherinnen für ein Unternehmen zunehmend wertvoll sind, stellt sich zunächst folgende Frage: Wie viel von solch neuem Denken und Tun kann und will Ihre Organisation denn tatsächlich verkraften? Bislang haben HR-Verantwortliche ja vor allem nach Bewerberinnen und Bewerbern gesucht, „die gut zu uns passen“. Klar muss der „Cultural Fit“ der Neulinge stimmen. Doch damit meint man oft in Wahrheit Mitarbeitende, die vorhersehbar „funktionieren“ und keine Probleme machen.
Zwar gibt der Text einer Stellenanzeige gern vor, man suche explizit nach Kandidatinnen und Kandidaten mit frischem Denken und forschem Handeln. Aber dann: Die Biografie braucht Geradlinigkeit. Aus Arbeitszeugnissen liest man heraus, wie sich jemand einfügen kann. Branchenerfahrung ist meistens ein Muss. Und überhaupt: so quer, so schräg, so unkonventionell, das dann bitte doch lieber nicht. Es könnte die betriebliche Ordnung stören. Da bleiben die Türen für nonkonforme Menschen zur Vorsicht verbarrikadiert.
Doch interne Monokulturen haben im digitalen Sturm, wie die Monokulturen in unseren Wäldern bei einem Orkan, nicht den Hauch einer Chance. Nehmen wir eine weitere Anleihe bei Mutter Natur: Sie produziert nicht das immer wieder Gleiche durch Klonung, sondern Neues durch Paarung. Die Durchmischung von eigenem mit fremdem Erbmaterial führt nämlich dazu, dass robustere Nachkommen entstehen. Genetische Vielfalt ermöglicht es einer Spezies, sich besser an wandelnde Umstände anzupassen.
Von nun an suchen und finden: Vorwärtsdenkerinnen und Zukunftsgestalter
Die besonderen Perlen, die den Unterschied machen und „das nächste große Ding“ liefern können, die Vorwärtsdenkerinnen, die vernetzten Zukunftsgestalter mit breit aufgestellten Mindsets, die muss das Recruiting finden. Suchen Sie also nicht nur nach Leuten, die bloß die Position ausfüllen können, die gerade besetzt werden soll. Suchen sie nach Generalistinnen und Generalisten, die im Zusammenwirken mit Spezialisten den entscheidenden Unterschied machen. Ihre heterogenen Praxiserfahrungen, ihre diversen Fachkenntnisse und ihr spezifischer Bildungshintergrund verschaffen den Unternehmen eine breite Palette möglicher Vorgehensweisen. Sie beugen der Betriebsblindheit vor. Sie sorgen für eine Frischzellenkur, für Blutauffrischung und Überkreuzbefruchtung.
Doch siehe da: Standardisierte Gesprächsverläufe sind noch immer die Norm. Verhält sich ein Kandidat wie erwartet, winkt man ihn durch. Verhält er sich anders als üblich? Wirft er womöglich das Gespräch aus der Bahn? Ein erstes Indiz für späteren Nonkonformismus! Das könnte Ärger geben. Also dann lieber weg mit ihm. Gefahren bringen auch die im Recruiting zunehmend eingesetzten Algorithmen. Diese selektieren, weil man sie mit entsprechendem Lernmaterial trainiert, Klone der Kandidaten, die in früheren Bewerbungsprozessen erfolgreich waren.
Schauen wir weiter: In Assessment-Centern bestehen die Kandidatinnen, die das, was in Assessment-Centern verlangt wird, gut können. Diejenigen aber, die mit anderen als den vorgesehenen Lösungen kommen, fallen durch. Auch in Development-Centern geht es bei den vorgegebenen Aufgaben vor allem darum, anerkannte oder erwünschte Ergebnisse abzuliefern. Beides sind Trimmstationen für Stromlinienförmigkeit.
Sehen wir noch kurz im Onboarding vorbei. Was dort passiert? Sogleich wird der/die Neue mit den „richtigen“ Verhaltensweisen vertraut gemacht. „Die Anforderungen, die ihr an uns junge Leute stellt, sind enorm: ein abgeschlossenes Studium, beste Noten, Auslandserfahrung, ein breites Wissen, Kreativpotenzial. Sind wir dann bei euch, werden wir als Erstes zurechtgestutzt und sollen uns an haarklein vorgeschriebene Abläufe halten“, so ein junges Top-Talent desillusioniert bei einer HR-Konferenz.
Selbstbefähigung und permanenter Entwicklungswille: fortan ein Muss
In einer rasant voranschreitenden Digitalökonomie veraltet Wissen schneller als jemals zuvor. Umfängliches Vorratslernen in Form von standardisierten Paketen ist deshalb nur noch marginal sinnvoll. Die Herangehensweise ans Lernen ändert sich demnach gerade fundamental. Selbstbefähigung und permanenter Entwicklungswille sind fortan ein Muss, sowohl in Bezug auf fachliche Tiefe als auch breitgefächert vernetzt.
Klassische Weiterbildung hingegen operiert oft noch immer wie anno dazumal: Größere Defizite werden erst im Jahresgespräch offengelegt, das heißt Wochen oder Monate nach Aufdecken der Mängel. Ein Seminar soll es richten. Es wird verordnet und fixiert, um die Lücke zu schließen. Aus einem Katalog oder im Web wird ein Anbieter gesucht. Irgendwann findet das Seminar dann endlich statt. Abgehakt. Der Transfer in die Praxis und der anschließende Umsetzungserfolg? Wen interessiert das schon wirklich? Viele Führungskräfte haken nicht einmal nach.
Auch die klassische Personalentwicklung stülpt den Beschäftigten meist vorgefertigte Programme über. Operativ rennen HR und PE den Entwicklungen dabei längst hinterher. Man konzipiert Fortbildungen dann, wenn sich Notwendigkeiten zeigen, antizipiert aber nicht die Bedarfe der Zukunft. So kommt es, dass große Teile der Belegschaft vielerorts den Anforderungen der fortschreitenden Digitalökonomie schon nicht mehr gewachsen sind.
Wer sein Qualifizierungsniveau nicht ständig durch eigenen Antrieb erhöht, entsorgt sich in Zukunft selbst. Ambitionierten jungen Talenten kann das nicht passieren. Werden Informationen benötigt, um an ein neues Thema heranzugehen, dann warten sie nicht bis zum nächsten Lehrgang. Sie starten flugs eine Onlinerecherche. Wer die klügsten Fragen ans Internet stellt und weiß, wo man die besten Antworten findet, dem sind Vorsprünge sicher. Symptomatisch für neue Formen der Selbstlernkompetenz: eigeninitiative Learning Communitys, in denen man die „Weisheit der vielen“ in kleinen Portionen ganz genau dann miteinander teilt, wenn man sie braucht.
„Elefant im Raum“, um all das endlich in Angriff zu nehmen
Um die Zukunftsfähigkeit seines Unternehmens zu sichern, muss man auch im Recruiting und der Personalentwicklung überaus kräftig an herkömmlichen Mindsets und etabliertem Vorgehen rütteln. Eine Methode, um das mal grundsätzlich in Angriff zu nehmen, heißt „Elephant in the Room“. Warum Elefant? Weil es um etwas wirklich Großes geht: ein offensichtliches Problem, das zwar im Raum steht, aber dennoch – wie ein Tabu – nicht offen thematisiert wird.
So können Sie mithilfe des „Elefanten im Raum" längst überfällige Diskussionen anstoßen. Stellen Sie den Anwesenden dazu folgende Frage: „Wenn es um unsere unternehmerische Zukunft geht, was sind in Recruiting und PE die wahren Blockaden, über die zwar offiziell niemand spricht, über die wir aber unbedingt reden sollten?“ Arbeiten Sie bei diesem Anlass unbedingt mit einem Moderator.
Zunächst macht es Sinn, eine „Sicherheitsfrage“ zu stellen. Zeichnen Sie dazu auf eine Pinnwand eine Elfer-Skala. Dann kommt folgende Frage: „Auf dieser Skala von null bis zehn: Wie frei denkt ihr, in dieser Runde sprechen zu können?“ Die Pinnwand mit der Skala drehen Sie um, sodass die Teilnehmenden ihre Bewertung anonym geben können. Liegen viele der Punkte unter acht, wird das zunächst diskutiert und bereinigt. Danach ist das Feld frei für den eigentlichen „Elefanten im Raum“.

// Autorin
Anne M. Schüller
Managementdenkerin, Keynote-Speakerin, Autorin und Businesscoach
Dieser Artikel stammt aus der Fachzeitschrift personal manager Ausgabe 6/21 mit dem Schwerpunktthema: Recruiting | passgenau, agil & teamorientiert