// Fachwissen erweitern mit dem Newsletter HRM-Wissen
Königsweg Identität: Führung in der VUCA-Welt
Interview mit Matthias Strolz

Matthias Strolz ist Unternehmer und war Mitinitiator der Partei NEOS, als deren Vorsitzender und Klubobmann er einige Jahre fungierte. Heute arbeitet er als Autor und Künstler, Speaker, Organisationsentwickler und Leadership-Coach. Im Interview erklärt er, wie Führungskräfte und Organisationen der VUCA-Welt begegnen können.
Herr Strolz, vor welchen Herausforderungen stehen Führungskräfte heute?
Sie müssen mit der Verrücktheit der Welt zurechtkommen: Das VUCA-Konzept ist aktueller denn je. Die Welt ist volatil, unsicher, komplex und ambivalent. Gefühlt kommt jeden Monat eine neue Komplexitätsschicht dazu. Ob Krieg in Europa, künstliche Intelligenz wie ChatGPT oder die sozialen Medien, die sich permanent wandeln: Es ist gar nicht so leicht, die Veränderungen sowohl kognitiv als auch emotional zu integrieren. Aber wenn wir das nicht leisten, können wir uns nicht planvoll bewegen im Morast des Lebens.
Was hilft dabei?
Entscheidungsfähigkeit wird immer wichtiger, aber nie war es schwieriger, sich zu entscheiden. Wir haben die meisten Wahlmöglichkeiten in der Geschichte unserer Spezies. Das ist einerseits ein Privileg. Aber gleichzeitig kann man in diesem Ozean der Optionen auch ertrinken. Denn die Wahlmöglichkeiten haben sich so schnell multipliziert, dass wir körperlich und psychisch gar nicht hinterherkommen. Besonders drastisch sehen wir das bei Social Media. Wir sind völlig überfordert damit, was sich auch an der Zunahme von Ernährungsstörungen, Depressionen und suizidalen Tendenzen, gerade bei den jungen Leuten, zeigt.
Wie gelingt es, mit diesen überfordernden Rahmenbedingungen umzugehen?
In Forschungen mit der Universität Wien haben wir fünf VUCA-Kompetenzen destilliert, die wichtig sind, um unsere Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu stärken und nicht in destruktive Tendenzen abzugleiten. Da ist einerseits Identität, also zu wissen, wer man ist: Denn nur wenn ich den Maßstab in mir trage, kann ich gut entscheiden. Ansonsten werde ich in alle Richtungen gerissen, allein durch die Fülle der Werbebotschaften, die mich umgeben. Zweitens muss ich beziehungsfähig sein, also Beziehungen gestalten und halten können. Denn echte Begegnungen sind das, was Menschen glücklich macht. Zu diesem Ergebnis kam zuletzt auch eine 80 Jahre dauernde Langzeitstudie der Universität
Harvard.
Drittens brauche ich die Fähigkeit der Signalresonanz: Ich muss Signale früh erkennen, verstehen und herausfinden, was sie für mich bedeuten. Gerade auch während der Coronakrise hat sich gezeigt, wie wichtig das ist.
Als viertes Element kommt die Ambiguitätstoleranz hinzu, also die Fähigkeit, mit Widersprüchen umzugehen. Denn es gibt keine widerspruchsfreie Welt. Die fünfte Kompetenz ist die Resilienz, die Fähigkeit, nach Niederschlägen aufzustehen und weiterzumachen. Das brauchen wir alle, weil wir im Durchschnitt viel mehr Brüche in unseren Biografien haben als unsere Eltern.
Vielleicht abgesehen von der Ambiguitätstoleranz waren diese Kompetenzen aber schon immer für Führung relevant, oder nicht?
Das ist richtig. Denn Führung ist ein urmenschliches Thema, das schon für die ersten Menschen notwendig war. Und tatsächlich ist die Ambiguitätstoleranz wichtiger geworden. Aber auch früher spielte sie eine Rolle. Alle Bibelgeschichten, Märchen und Sagen arbeiten mit Spannung und Widersprüchen. Sie waren auch immer Teil der europäischen Ideengeschichte – ebenso wie die Identität. Das Orakel von Delphi hat die Menschen, die von dieser externen Autorität etwas über ihr eigenes Leben erfahren wollten, beim Tempel des Apollo mit der Inschrift „Erkenne dich selbst” empfangen. Identität war somit immer schon relevant, bekommt aber heute noch mal eine andere Wertigkeit – und ist aus meiner Sicht die Königsdisziplin.
Warum?
Weil wir noch nie so zahlreich, laut, drängend und massiv Verführungen ins Ohr geblasen bekommen haben wie heute. Ich hatte in meiner Kindheit zwei Fernsehkanäle, die nachts auf das Testbild geschaltet haben. Meine Kinder haben rund um die Uhr Milliarden von Kanälen zur Verfügung. Das sind unglaubliche Herausforderungen für die Frage „Wer bin ich?“. Wenn sich Kinder eine Stunde lang Videos auf Tiktok anschauen, werden sie mit einer Vielzahl von widersprüchlichen Botschaften konfrontiert.
Wie können wir unsere Identität stärken – als Individuum, aber auch als Organisation?
Ich arbeite mit den „High Five der Entfaltung“, einem systemisch-integralen Modell mit fünf Schichtungen, das sich auch auf Organisationen anwenden lässt. Denn als Systemiker betrachte ich Organisationen als Lebewesen, die Bedürfnisse haben, wachsen, aber auch sterben können. Sie sind – wie Menschen – radikal sozial und können nicht als Solitäre bestehen. Und wie Menschen können sie erst dann gut in Beziehung gehen, wenn sie sich ihrer Identität bewusst werden.
Wie gelingt das?
Es beginnt mit Schichtung eins, dem Bewusstwerden, das ein Innehalten und Wahrnehmen erfordert. Dafür brauchen wir einen geschützten Rahmen, zum Beispiel Workshops oder Klausuren. Denn im Trubel des Alltags kommen wir nicht in die Wahrnehmung, weil wir zu sehr im Tun sind.
Schichtung zwei ist das Loslassen – und wird oft vergessen. Wir widmen uns mit viel Energie der Frage, welche neuen Projekte wir angehen, aber lassen nichts los. Dabei kann nur die leere Hand empfangen. Deshalb hat jede Hochkultur und Weltreligion Rituale des Loslassens entwickelt, wie etwa Ramadan oder Fastenzeiten.
Die dritte Schichtung ist die Verbindung mit dem inneren Ort, einen Begriff den ich vom MIT-Forscher Otto Scharmer übernommen habe. Wir können den inneren Ort wissenschaftlich noch nicht genau vermessen. Ich beziehe mich hier auf die Intuition und die Herzintelligenz. Wir sollten lernen, uns mit diesen Sphären besser zu verbinden. Denn allein mit dem Kopf sind wir oft nur unzureichend in der Lage, wichtige Entscheidungen zu treffen.
Worin bestehen die letzten beiden Schichtungen?
Die vierte Schichtung ist die Formgebung, eine Art Prototyping. Es geht darum, sich auszuprobieren, zu erkennen, wo die eigenen Talente liegen und wo und wie man sie konkret in die Entfaltung bringen und in den Dienst stellen kann. In Schichtung fünf skalieren wir unsere Talente in die Meisterschaft. Sie ist das, was die Managementliteratur als Performanz oder die Psychologie als Flow beschreiben würde.
Inwieweit werden die fünf Schichtungen und die VUCA-Kompetenzen heute schon in der Führungspraxis gelebt?
Ich glaube, dass vieles in diese Richtung geht. Führungskräfte haben heute viel mehr systemische Kompetenz als früher. Wir verabschieden uns zunehmend von einem linearen Führungsverständnis, das sich an Command and Control orientiert, und bewegen uns hin in Richtung Co-Creation. Führung ist ebenso wie Lernen Beziehungsarbeit. In dieser Hinsicht sehe ich viele gute Entwicklungen - mit allen Verirrungen, die dazugehören. Die nächste große Etappe der Führungsaufgaben wird aus meiner Sicht in der Heilungsarbeit bestehen.
Was meinen Sie damit?
Jede Organisation versucht Menschen in eine Art Abhängigkeit zu bringen. Daraus entwickelt sich ein wilder Tanz von Autonomie und Bindung. Gerade für die Generation Z ist das schwierig, weil sie einen starken Freiheitsdrang hat, zugleich aber Wert auf Zugehörigkeit und Sicherheit legt. Diese Widersprüchlichkeiten lösen Verstrickungen und Verwechslungen aus, die belastend sein können. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, wie ich mich als Mensch voll und ganz einbringen kann, ohne mich in mikropolitischen Spielchen aufzureiben. Wir sehen aktuell einen schwunghaften Anstieg an Depressionen, Suizidalität und anderen Krankheitsbildern. Das betrifft auch die Unternehmen – und hier braucht es immer wieder Heilungsarbeit, damit wir uns nicht in der Spannung erschöpfen, sondern auch der inhaltlichen Zwecksetzung des jeweiligen Unternehmens und schließlich auch der Performanz und Wertschöpfung widmen können.
Dieses Interview stammt aus der Fachzeitschrift personal manager Ausgabe 3/23 mit dem Schwerpunktthema: Weiterbildung