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Die beliebtesten Sackgassen ins Neue. Und wie wir wieder rauskommen.
Kolumne von Rainer Peraus.
Sackgasse #2: Radikale Fragen und utopische Ideen sind Zeitverschwendung. Was wir brauchen, sind Lösungen!

Wandel ist schwierig, anstrengend und kompliziert. Angeblich. Die gute Nachricht: Wir sorgen mit ausgefeilten Vermeidungsstrategien dafür, dass alles möglichst lang beim Alten bleibt. Gedankliche Sackgassen rund um Transformation und Erneuerung sind dafür beliebte Wege. Auf ihnen fühlen wir uns unterwegs und doch entsteht kaum Fortschritt. Wie Sie populäre Irrtümer erkennen und aus Sackgassen des Wandels herausfinden, beantwortet Rainer Peraus.
„Dieses ganze Erneuerungsgerede ist doch pure Zeitverschwendung. Was sollen Grundsatzfragen oder visionäre Flausen helfen? Was wir brauchen, sind konkrete Lösungen, die sich sofort umsetzen lassen!“, ließ kürzlich Herr Wilhelm F., eine erfahrende Führungskraft aus der Industrie, selbstbewusst während einer Zukunftskonferenz wissen. Visionäre Gedanken, mehrdeutige Perspektiven und tiefgründige Fragen – oder doch besser eine einfache Antwort, die zumindest kurz Erleichterung verschafft? Als Berater, Trainer und Redner erreichen mich oft derartige Fragen nach praxistauglichen Instantlösungen.
Anders als für Herrn F. ist für mich das richtige Maß zwischen rascher Umsetzbarkeit, unverzichtbarer Offenheit und angemessener Tiefe der persönlichen Auseinandersetzung ein beständiger Spagat. Wo können wir klare Lösungen direktiv vermitteln? Was verlangt nach tiefgründigem Verlernen und oft scheinbar träge dahin mäandernden Suchprozessen mitten durch utopische Urwälder, um sich dem Potenzial der Zukunft zu nähern und noch unerschlossenes Zukunftsterrain zu erobern? Wie viel Zeit darf man, nein muss man sich dafür nehmen?
Früher gehörte es zu den Pflichten einer Führungskraft, auf jede Frage eine Antwort parat zu haben. Schließlich war man anderen vorgesetzt, weil man es besser wusste. Dieses Leitbild des positionsbedingten Besserwissens aus der vergangenen Zeit der Stabilität ist heute zumindest theoretisch überholt. Doch die Hoffnung, dass zumindest Expertinnen und Experten auf die drängenden Fragen einer Welt im radikalen Wandel möglichst einfache und praxisorientierte Antworten haben, wächst proportional zur Unübersichtlichkeit des Alltags.
Kindern gleich, hoffen viele bereitwillig, dass zumindest Sachverständige, wie einst Erwachsene, Eltern oder Lehrende, stets den Überblick behalten und die Lösungen kennen. In stabilen Entwicklungsphasen eine bequeme, aber verantwortungslose, jedoch wenigstens erfüllbare Hoffnung.
Doch in Zeiten disruptiven Wandels sind wir aufgerufen, unsere Welt radikal neu zu erfinden. Und Expertinnen und Experten können normative Fragen nach dem Wohin und Warum auch nicht für uns entscheiden. Da wird die Hoffnung nach frei Haus gelieferten Antworten, die übersichtlich in Handbüchern zusammengefasst sind, so leid es mir tut, zur populären Sackgasse auf dem Weg ins Neue.
Um an die Bedenken von Herrn F. anzuschließen: Wahre Ressourcenverschwendung wäre es, bei Fragen, die sich hartnäckig wiederholen oder als scheinbares Dilemma zu erkennen geben und so auf ein bevorstehendes Epochenende aufmerksam machen, nur auf bisheriges Wissen zu setzen und auf mundgerecht vorgekaute Antworten zu hoffen.
Auch wenn dieser Wunsch nach leicht verdaulicher Kost verständlich ist, entscheidet die Frage, konkret deren Offenheit, Tiefe oder inhaltliche Breite, ob man ausreichend weit von den sprichwörtlichen Bäumen, die uns die Sicht verstellen, zurücktritt. Hoffentlich weit genug, um den Wald des Wandels und die darin schlummernden Chancen als solche zu erkennen. Denn jede noch so richtige Antwort ist nutzlos, da bereits die Frage Teil des eigenen Irrtums ist.
Probleme wie der Klimawandel, das Artensterben oder die fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen, die die Digitalisierung auslöst, sind allesamt epochal. Angemessene Antworten erfordern daher die Erneuerung der gültigen Wahrheiten über die Welt, in der wir leben, arbeiten und wirtschaften.
Solange wir Antworten auf diese Fragen innerhalb unserer gewohnten Erzählung von Glück durch materielles Wachstum oder Fortschritt und Rettung durch Technik suchen, bleibt nur das Scheitern oder das kräftezehrende kathartische Stolpern ins Neue. Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen lösen, die zur Entstehung beigetragen haben, meinte auch Albert Einstein. Recht hat er!
Schade, um so viel vergeudete Problemlösungen und übersehene Chancen. Nur wenn wir die Welt neu sehen und verstehen und so aus einer neuen Perspektive, die meist auch mit der normativen Frage des Wozu beginnt, neu erzählen können, gelingt es, bisherige Probleme mit neuer Zukunft zu beantworten.
Dafür ist es nötig, bisheriges Wissen zu verlernen und sich auf gedankliches Neuland zu wagen. Wenn diese Ablösung vom bisherigen Denken gelungen ist, helfen Ausflüge zum Hoffen und Wünschen und gedankliche Experimente auf utopische Spielplätze, um zeitgemäße Antworten zu finden.
// Für Praktiker heißt das
Schluss mit dem Reparieren der Vergangenheit bei epochalen Problemen. Schluss mit dem Versuch, die alte Zukunft zurechtzusparen. Hin zur potenziellen Fülle der neuen Zeit, die wir nur noch nicht begreifen, weil uns die Neuerzählung der Wirklichkeit noch fehlt. Und wenn Sie demnächst nach einer Problemlösung fragen, überlegen Sie zuerst, welche verunsichernde, möglicherweise überkommene Wahrheit bereits in der Frage mitschwingt. Ob Ihre Frage ausreichend tief, breit und radikal ist, um eine neue Perspektive zu ermöglichen. Auch wenn sich grundlegendere Fragen zunächst nach Zeitverschwendung anfühlen und das Kramen in normativen Fantasien ungewohnt ist, so leben wir in Zeiten, die deutlich mehr Visionen und Utopien brauchen als kurzsichtige Auswege für Sackgassen von gestern.
Dieser Artikel stammt aus der Fachzeitschrift personal manager Ausgabe 6/21 mit dem Schwerpunktthema: Recruiting | passgenau, agil & teamorientiert