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So entwickeln Sie eine Candidate Journey
Vom Marketing inspiriert

Wer die Spitzengruppe der Leistungsträger für sich gewinnen und auf Dauer produktiv machen will, kann den Kollegen, die sich mit den Kunden des Unternehmens befassen, durchaus über die Schulter schauen. Viele Themen, mit denen die Personaler im Zuge der digitalen Transformation konfrontiert sind, beschäftigen Service, Sales und Marketing auch. Exemplarisch betrachte ich in diesem Beitrag die Candidate Journey.
Geht ein Unternehmen auf die Bedürfnisse seiner Kunden ein, sorgt dies für Loyalität, für Weiterempfehlungen und für Aufpreisbereitschaft. Auf der Mitarbeiterseite ist es quasi genauso. Nur dann, wenn sich ein Beschäftigter rundherum wohlfühlt, kann und will er sein Bestes geben: sein ganzes Potenzial, seine volle Schaffenskraft sowie die so wertvolle Mundpropaganda. Schlüsselvakanzen müssen kunstfertig angeboten und Toptalente wie Kunden behandelt werden, um die besten Köpfe für sich zu gewinnen. Mit gewöhnlichen Recruitingmethoden können Unternehmen keine außergewöhnlichen Kandidaten finden. In Arbeitslandschaften von gestern entwickeln sie keine Innovationen für morgen. Und mit antiquierten Führungstools kommen sie heute nicht weit.
Augmented Reality, Algorithmen, Chatbots, Dashboards, Predictive Analytics, Relationshipmanagement, Touchpoints, Personas, Journeys und so fort: Das Marketing ist damit vertraut. Passende Mittel, Wege und Lösungen wurden dort längst gesucht und gefunden. Diese lassen sich oft nahezu eins zu eins auf den HR-Bereich übertragen. Zudem korrelieren viele Facetten: Wo es den Mitarbeitern mies geht, da haben auch die Kunden nicht viel zu lachen. Denn Servicewüsten entstehen durch Führungswüsten. Herrscht schlechte Stimmung, wird selten eine gute Dienstleistung daraus. Nur begeisterte Mitarbeiter können und wollen Kunden begeistern. Und auch eine perfekte Recruitingkampagne wird scheitern, wenn es drinnen im Unternehmen nicht stimmt.
Denn nicht die Firmenwebsite und deren Karriereteil, sondern das Eingabefeld der Suchmaschinen ist zunehmend der Startpunkt für eine potenzielle Mitarbeiterbeziehung – und oftmals gleichzeitig das Ende. Dabei spielt WOM, also Word of Mouth in Form von Hinweisen auf Arbeitgeberbewertungsportalen, in User-Foren, im Social Web, in Blogbeiträgen und Presseartikeln eine zunehmend wichtige Rolle. Solche Interaktionspunkte werden im Fachjargon „Earned Touchpoints“ genannt, denn man kann sich das (hoffentlich) Positive, das an solchen Interaktionspunkten ausgedrückt wird, nicht wie eine Stellenanzeige erkaufen, man muss es sich vielmehr verdienen.
Die Candidate Journey: heute ein Muss
Wer sich für die vielversprechendsten Talente attraktiv machen will, für den ist das Entwickeln einer Candidate Journey heute ein Muss. Diese wird, und das ist der springende Punkt, aus der Perspektive des Bewerbers betrachtet. Wer nämlich als solcher mit Unternehmen interagiert, ärgert sich über so manches: den Spamfaktor von Active Sourcing, die mangelnde Nutzerfreundlichkeit einer Website, das nicht mobiloptimierte Bewerbungsformular, altertümliche Stellenbeschreibungen, geschönte Fakten, endlose Reaktionszeiten, standardisierte Interviews, respektloses Verhalten, nicht eingehaltene Versprechen und vieles mehr. Ursache dafür sind Verfahren aus der Vergangenheit, Methodenhörigkeit, Ignoranz, unangebrachte Arroganz und ein Mangel an Bewerberorientierung. Vor allem dann, wenn es dabei um junge Talente geht, gibt es nur eine Gruppe von Menschen, die sagen kann, wie man sie tatsächlich für sich gewinnt: die jungen Talente selbst. Unternehmen, die sich nicht auf deren Erwartungen einstellen können, werden ihr Potenzial niemals gewinnen.
So wird bei einer prototypischen Candidate Journey aus dem Blickwickel einer Bewerber-Persona durchleuchtet und sichtbar gemacht, wo und wie er/sie sucht, was er/sie erwartet, welche Erfahrungen er/sie während des Bewerbungs- und Onboarding-Prozesses machen möchte, welche Erlebnisse er/sie tatsächlich hat und wie seine/ihre Reaktion darauf ist. So können Arbeitgeber Hürden abbauen, unpassende Vorgehensweisen entsorgen und erfolgversprechendere Maßnahmen anwenden. Bei jedem Recruiting ist eine grundlegende Entscheidung also die, auf welche Vorhaben sich Unternehmen konzentrieren sollten, welche sie neu kombinieren oder auch vernachlässigen können, welche sie streichen müssen und welche womöglich noch fehlen. Hierzu beleuchten sie sowohl die faktischen als auch die emotionalen Erlebnisse, die ein Bewerber an einem Interaktionspunkt hat oder haben könnte.
Woher das Konzept der Candidate Journey stammt? Ursprünglich kommt es aus dem E-Commerce. Beschrieben wird dort anhand einer Customer Journey der Weg eines Kunden vom ersten Gewahrwerden über die Informations-, Kauf- und Nutzungsphase bis zum möglichen Weiterempfehlen. In Anlehnung an eine solche Customer Experience sprechen HRler von einer Candidate Experience, kurz CX. Hierbei gilt es, die wichtigsten Ein- und Ausstiegspunkte während einer Candidate Journey zu ermitteln. So können auch Wirkungszusammenhänge zwischen den einzelnen Touchpoints erkannt und Kannibalisierungseffekte aufgedeckt werden.
In sieben Schritten zur Candidate Journey
Bei einer Candidate Journey visualisieren Organisationen eine typische Bewerberreise in Form einer Reiseroute. Sie machen die Erfahrungen eines Bewerbers also durch ein „Candidate Journey Mapping“ sichtbar. Dies kann folgende Stationen umfassen: Onlinerecherche – Vorauswahl – Kontaktaufnahme – erstes Vorstellungsgespräch – Vertiefungsgespräche – Endauswahl - Vertragsabschluss – Wartezeit bis zum ersten Tag der Zusammenarbeit – Arbeitsbeginn – (vorzeitiger Absprung) – (Weiterempfehlung). Wie dies optisch aussehen kann? Am besten lassen Sie die Mitarbeiter ein passendes grafisches Konzept dazu erstellen.
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Beim Entwickeln einer Candidate Journey sind insgesamt sieben Schritte zu gehen:
Schritt 1:
Legen Sie zunächst fest, welches Szenario Sie für welchen Bewerbertyp untersuchen wollen. Zum Beispiel: Ein Hochschulabsolvent bewirbt sich um seine erste Stelle. Definieren Sie dazu gegebenenfalls prototypische Candidate-Personas, um von den Aspiranten ein besseres Bild zu gewinnen. Candidate-Personas (grammatikalisch korrekt: Personae) sind fiktive Stellvertreter einer Bewerbergruppe, die deren charakteristische Eigenschaften, Erwartungshaltungen und Vorgehensweisen in sich vereinen. Sie ersetzen das anonyme Zielgruppengemenge durch eine menschliche Gestalt, in die man sich gut hineindenken kann.
Schritt 2:
Identifizieren Sie alle Interaktionspunkte, die in diesem Szenario eine Rolle spielen könnten. Unterteilen Sie die Bewerberaktivitäten hierzu chronologisch in einzelne Phasen. Dies hilft, den Überblick zu behalten. Ordnen sie die relevanten Touchpoints danach den einzelnen Phasen zu. Obertouchpoints wie zum Beispiel die Karriereseite des Unternehmens können Sie in Untertouchpoints zerlegen und so sehr detailliert betrachten. Analysieren Sie in diesem Schritt auch das öffentliche Feedback über Sie als Arbeitgeber.
Schritt 3:
Stellen Sie die einzelnen Bewerbungsphasen und die dazugehörigen Touchpoints in ihrer zeitlichen Abfolge grafisch dar. Beobachten und befragen Sie dazu auch die Bewerber. Illustrieren Sie, soweit möglich und rechtlich erlaubt, quasi wie bei einem Reisebericht, was an den einzelnen Touchpoints passiert: durch Videos, Fotos, episodische Begebenheiten oder Sprechblasen-Statements. Markieren Sie die laut Bewerberangaben besonders wichtigen Touchpoints.
Schritt 4:
Jede Erfahrung, die ein Mensch macht, wird mit einem emotionalen Plus oder Minus markiert, dementsprechend im zerebralen Erfahrungsspeicher abgelegt und schließlich als „Like“ oder „Dislike“ geäußert. Analysieren Sie deshalb das, was aus Sicht der Jobsuchenden an den einzelnen Touchpoints passiert, im Einzelnen so:
Was ist enttäuschend? (= Was wir keinesfalls tun dürfen.)
Was ist okay? (= Unser Minimum-Standard, die Null-Linie der Zufriedenheit.)
Was ist/wäre begeisternd? (= Was wir bestenfalls tun können.)
Fahnden Sie insbesondere nach den Höhen und Tiefen einer Bewerbererfahrung, indem Sie ausgewählte Personen dazu befragen. Dabei geht es sowohl um die Prozess- als auch um die Beziehungsebene. Ermitteln Sie auch, wo und weshalb Sie aussichtsreiche Kandidaten verlieren. Sondieren Sie dazu vor allem die Arbeitgeberbewertungsportale. Auch von dem, was dort über andere Firmen steht, kann man viel lernen.
Schritt 5:
Erarbeiten Sie danach gemeinsam, was Sie tun können, um die Bewerbererlebnisse an jedem Punkt zu verbessern, reibungsloser und unbeschwerter zu gestalten. Definieren Sie dazu das Soll, wie also eine optimale Touchpoint-Reise zum Traumjob tatsächlich aussehen könnte. Um dabei in die Begeisterungszone zu gelangen, kann man gar nicht genug außergewöhnliche Ideen haben. Hierzu nutzen Sie am besten die „Weisheit der vielen”, also die kollektive Intelligenz der Mitarbeiterschaft.
Schritt 6:
Setzen Sie die verabschiedeten Vorhaben und Veränderungen schnellstmöglich um. Favorisieren Sie dabei die Quick Wins, also jene Schritte, die schnelle Erfolge erzielen. Im Nachgang einer Aktion sollten Sie das tatsächliche Vorgehen nochmals betrachten. Die Fragen klingen dann so:
War das wow? – War es also begeisternd, verblüffend, überraschend, außergewöhnlich gut?
War das okay? – War es also nur den Erwartungen entsprechend, belanglos, beliebig, indifferent?
War das gar nichts? – War es also enttäuschend, empörend, frustrierend, potenziell imageschädigend?
Begeisterung heißt immer: Erwartung plus x.
Die Referenzpunkte liegen dabei auf Höhe der besten und schlechtesten subjektiven Erfahrungen, die man je auf diesem Gebiet gemacht hat. Sie werden auch durch die Versprechen des Unternehmens befeuert.
Schritt 7:
Monitoren Sie Ihre Erfolge. Legen Sie dazu geeignete Kennzahlen fest. Meist ist es ein passender Mix aus mehreren Touchpoints, der für eine Zusage schließlich den Ausschlag gibt. Eine Eins-zu-eins-Messung, die zeigt, welcher Touchpoint am Ende der entscheidende war, ist schon allein aus diesem Grund gar nicht möglich. Zumindest sollten Sie aber erfassen, welcher Interaktionspunkt im Vorfeld für die Bewerbung ausschlaggebend war. Dies geschieht, indem Sie den Kandidaten folgende Frage stellen: „Wie sind Sie eigentlich ursprünglich auf uns aufmerksam geworden?“ Zudem können Sie die Weiterempfehlungsbereitschaft messen, und zwar so: „Auf einer Skala von 0 bis 10: Wie sehr würden Sie uns einem Freund oder Kollegen weiterempfehlen?“ Nach der Antwort stellen Sie dann noch diese Zusatzfrage: „Was ist der Hauptgrund für die Bewertung, die Sie gerade abgegeben haben?“
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Candidate Journeys im Workshop entwickeln
In einem eintägigen Workshop mit allen Beschäftigten, denen Jobsuchende auf einer solchen Reise begegnen, lassen sich Candidate Journeys exemplarisch entwickeln. Auch Kollegen, die erst vor Kurzem eingestellt wurden, und einige Millennials sollten unbedingt mit teilnehmen können. Am besten beginnen Sie den Tag mit folgenden Aufgabenstellungen, die in Kleingruppen bearbeitet werden:
1. Was ich als Bewerber anderswo ganz gewiss nicht erleben möchte.
2. Was mich als Bewerber ganz besonders begeistern würde.
3. Typische positive Erlebnisse eines Bewerbers bei uns im Recruitingprozess.
4. Typische negative Erlebnisse eines Bewerbers bei uns im Recruitingprozess.
Anschließend entwickeln Sie eine prototypische Candidate Journey. Diese wird bildlich dargestellt. Sie zeigt, was ein Bewerber an den einzelnen Etappenzielen so alles erlebt. Es wird also nicht nur geschrieben, es wird wie bei einer Collage auch gemalt und geklebt. Ausgewählte Geschichten, beispielhafte Bewerbermeinungen und symptomatische Bewertungen aus Onlineportalen heften die Teilnehmer an. Sie listen Enttäuschungs- und Begeisterungsfaktoren und dokumentieren Don‘ts und Dos. Das Ganze übertragen Sie am besten auf Pinnwände, sodass die Teilnehmer alles für den Projektfortgang mit in ihre Abteilung nehmen und weiter bearbeiten können. Alternativ lassen sich auch weiße Tafeln (Whiteboards) oder Multimediawände nutzen.
Im Anschluss an die Visualisierung erstellen Sie eine Prioritätenliste der zu bearbeitenden Touchpoints. Ist die dortige Ist-Situation erfasst, definieren Sie eine gewünschte oder notwendige Soll-Situation und entwickeln einen Maßnahmenplan. Dieser wird in den angepeilten Zeitlinien ausgeführt. Im Anschluss daran wird das Ergebnis anhand passender Messgrößen geprüft, dokumentiert und optimiert.
Ist die Methodik erst mal bekannt, lässt sie sich nach dem gleichen Muster auf weitere Prozesse im Unternehmen übertragen. Zum Beispiel können Unternehmen so auch den komplette Onboarding-Prozess, also die Einarbeitung der neuen Mitarbeiter, optimieren. Fortschrittliche Firmen entwickeln bereits die unterschiedlichsten Employee Journeys, was das Bleiben guter Mitarbeiter fördert. Schließlich lassen sich Offboarding-Prozesse durch ein entsprechendes Journey-Konzept unterstützen.
Dieser Artikel stammt aus der Fachzeitschrift personal manager Ausgabe 5/20 mit dem Schwerpunktthema: Was HR vom Marketing lernen kann

// Autorin: Anne M. Schüller
Managementdenkerin, Keynote Speaker, Autorin, Businesscoach