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Humane Unternehmen
Wie viel Verantwortung tragen Menschen in Organisationen?

Interview mit: Judith Muster

Judith Muster
© Alexandra Kern

Unternehmen erwarten zunehmend von ihren Mitarbeitenden ein bestimmtes „Mindset“, den „Cultural Fit“ oder ein Verhalten, das dem „Purpose Statement“ entspricht. Aber dürfen sie das überhaupt? Was müssen Beschäftigte für Organisationen leisten? Über diese Fragen haben wir mit der Soziologin und Beraterin Judith Muster gesprochen, die mit zwei Co-Autoren das Buch „Die Humanisierung der Organisation“ geschrieben hat (siehe Literaturtipp).

Frau Muster, Sie plädieren dafür, dass Organisationen Mitarbeiter:innen nicht als „ganze Menschen" in Anspruch nehmen. Was meinen Sie damit?
Menschen dürfen sich natürlich mit ganzem Herzen bei der Arbeit einbringen. Mir geht das selbst auch so. Aber wir sollten uns Gedanken darüber machen, inwiefern Organisationen die intrinsische Motivation von Menschen beanspruchen dürfen. Mitarbeiter:innen sind über Arbeitsverträge formal Mitglieder einer Organisation und müssen gewisse Ressourcen zur Verfügung stellen – aber andere nicht. So kann eine Organisation nicht von mir erwarten, dass ich für die Arbeit brenne, an den Purpose des Unternehmens glaube, mit Charme und Witz interaktionale Störungen ausgleiche, welche die Organisation verursacht, oder aus Kollegialität zusätzliche Aufgaben übernehme. All das tun Menschen in Organisationen, aber niemand darf es qua Arbeitsvertrag verlangen. Daher unterscheiden wir zwischen dem „ganzen Menschen“ und den Mitgliedern einer Organisation.

Wann wird es problematisch, wenn Unternehmen Beschäftigte über den Arbeitsvertrag hinaus beanspruchen?
Es wird problematisch, wenn sie versuchen, Probleme, die auf der Ebene der Organisation gelöst werden müssten, auf der Ebene der Personen zu lösen. Viele Managementmethoden versuchen aktuell, den Menschen intrinsisch zu motivieren für Dinge, die Personen nicht lösen können, weil wir sie strukturell angehen müssten.

Können Sie ein Beispiel bringen?
Wir können das am Beispiel der Werte durchdeklinieren. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie schwer in eine Hierarchie zu bringen sind. Was ist wichtiger – Solidarität oder Freiheit? Das ist kaum zu entscheiden, wir finden beides wichtig. Werte haben ein hohes Konsensniveau, alle nicken sie ab. Daher sind sie ein sehr integrativer Mechanismus – und wer sie ablehnt, trägt die Beweislast. Wenn ich sage, ich bin gegen Solidarität oder Agilität, dann muss ich erklären, warum.

Auf der anderen Seite sind Werte relativ wenig handlungsleitend. Was genau heißt es, solidarisch oder agil zu sein? Werte bieten für das normative Management eine Leitplanke. Aber sie sagen nichts darüber aus, wie ich mich in der Organisation verhalten soll.

Welche Folgen hat das?
Wenn ich in der Organisation nicht darüber spreche, wie man Werte einhalten soll, entsteht eine Lücke zwischen normativem Anspruch und faktischem Verhalten. Da die Organisation diese Lücke nicht überbrückt, versuchen es die Menschen. Sie versuchen, sich nach den Werten zu verhalten, kommen dabei aber oft in Konflikt mit Organisationszielen. Sie geraten beispielsweise unter großen Zeitdruck. Oder – und das ist häufiger der Fall – sie werden zynisch. Denn die Werte in den Hochglanzbroschüren haben nichts mit ihrer Wirklichkeit zu tun. Die Folge ist oft, dass Menschen für ihr Verhalten moralisch abgeurteilt werden. Dann heißt es, die Führungskräfte sind nicht transformational genug oder die Leute haben nicht das richtige Mindset. Aber damit ist das Problem nicht gelöst. Wenn wir also einen Wertedialog in der Organisation führen, müssen wir konkret machen, welches Verhalten wir wünschen. Außerdem ist es wichtig, nicht die Menschen für Probleme verantwortlich zu machen, die eigentlich in der Organisationsstruktur liegen.

Was sind typische strukturelle Probleme, die Organisationen oft auf Mitarbeitende abwälzen?
Ein ganz typisches strukturelles Problem entsteht, wenn Organisationen Menschen in Führungspositionen bringen, ohne ihnen passende Instrumente und Befugnisse zu geben. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Sie in einem Werk Vorarbeiter einführen, die für Qualitätssicherung und Arbeitssicherheit verantwortlich sein sollen, aber keinerlei Führungsmittel bekommen, um das durchzusetzen. Die Vorarbeiter können keinen Urlaub genehmigen und keine Schichten zuteilen. Sie haben keinerlei Einfluss auf das Arbeitsumfeld und sind auch nicht besser informiert als die normalen Arbeiter:innen. In einem konkreten Fall führte das dazu, dass die Vorarbeiter die Leute häufig anschrien – und das Unternehmen kam zu uns und wünscht sich eine Persönlichkeitsschulung für die Führungskräfte. Doch wenn alle Vorarbeiter oft schreien, ist das kein Personenproblem, sondern ein Strukturproblem. Dann ist es viel sinnvoller, die Führungsmittel richtig zu verteilen. Und mit Führungsmitteln meine ich nicht das Durchsetzen von Hierarchie, sondern ich meine Relevanz für die Beschäftigten. Führungskräfte sollten etwas zu sagen und anzubieten haben.

Sind es primär die Führungskräfte, die strukturelle Probleme lösen müssen?
Nein, denn Probleme eskalieren gerne sehr weit nach unten. Ein weiterer typischer Mechanismus in Organisationen ist das, was Niklas Luhmann als „brauchbare Illegalität“ bezeichnet. Darunter fallen Regelabweichungen, die Menschen begehen, damit sie ihren Job erledigen können. Sie ziehen die persönliche Schutzausrüstung zum Beispiel nicht an, wenn sie auf 50 Zentimeter hohe Stufen steigen müssen, oder sie umgehen Hierarchien, um Zeit zu sparen. Die Regelbrüche helfen ihnen, den Laden am Laufen zu halten. Aber wenn etwas schiefgeht, liegt die Schuld bei ihnen.

Gilt das auch für Ziele, die Mitarbeitende aufgrund von strukturellen Problemen nicht erreichen?
Ja genau, das ist ein dritter verbreiteter Mechanismus in Organisationen: Sie setzen Ziele, die jemand nicht erreichen kann. Die Betroffenen fühlen sich schuldig, fehlerhaft oder nicht genug unterstützt. Und weil sie den Anforderungen nicht gerecht werden, versuchen sie es entweder mit Regelbrüchen, wie eben beschrieben, oder sie lassen es ganz. Auf jeden Fall sind sie am Ende schuld.

Unterstellen wir mal, dass diesen Mechanismen keine böse Absicht zugrunde liegt: Wie lassen sie sich durchbrechen?
In den allermeisten Fällen besteht keine böse Absicht – und dieser Punkt ist mir sehr wichtig: Denn wenn wir Absicht unterstellen würden, dann wären diese Mechanismen ja wieder den Personen zuzurechnen. Stattdessen handelt es sich um ganz normale Mechanismen, die in allen Organisationen auftreten. Aus Sicht der Systemtheorie haben Organisationen eine bestimmte Eigenlogik, also eine emergente Struktur, die sich nicht mehr auf einzelne Personen herunterrechnen lässt.

Daher besteht die Lösung darin, sich genau anzuschauen, welche Strukturen dieses Verhalten auslösen. Wenn Menschen Prozesse umgehen, weil diese nicht mehr zur Arbeitsrealität passen, müssen wir uns die Prozesslandschaft anschauen. Wenn der Vorarbeiter schreit, weil er keine Autorität hat, benötigt er Führungsmittel. Die Lösung ist immer auf der Strukturebene – und eben nicht auf der Personenebene.

Woran erkennen Sie Unternehmen, denen es gut gelingt, strukturelle Probleme zu lösen?
Sie haben eine Führungsmannschaft, die Organisationsgestaltung als Daueraufgabe ernst nimmt und sich nicht erst dann damit befasst, wenn der nächste Strategiewechsel eine Reorganisation auslöst. Diese Führungskräfte schauen immer wieder auf die Belastungen der Menschen im Verhältnis zur Organisation. Das heißt nicht, dass sie alle Belastungen aus dem Weg räumen. Ein Kunde von uns hat zum Beispiel ein sehr agiles Organisationsmodell, was hoch belastend für die Führungskräfte ist, weil sie sehr heterogene Bereiche leiten und die Mitarbeitenden viel Entscheidungshoheit haben. Dennoch kam eine Führungskräftekonferenz zu dem Ergebnis, dieses System beizubehalten und die Belastungen als Teil der Führungsarbeit zu akzeptieren, die im Übrigen gut bezahlt wird. Wichtig ist, dass solche Gespräche auf der richtigen Ebene stattfinden – und die Probleme nicht nach unten eskalieren.

Interview: Bettina Geuenich

// Literaturtipp  
Die Humanisierung der Organisation. Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert. Von Kai Matthiesen, Judith Muster und Peter Laudenbach. Vahlen 2022.

Dieses Interview stammt aus der Fachzeitschrift personal manager Ausgabe 2/23 mit dem Schwerpunktthema: Recruiting

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