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„Der Aufruf des Kapitäns zur Meuterei”

Interview mit Gerhard Filzwieser

Gerhard Filzwieser

Was geschieht, wenn der Eigentümer eines mittelständischen Industrieunternehmens die Grundlagen des eigenen Wirtschaftens infrage stellt? Im Fall von Gerhard Filzwieser, dem Geschäftsführer des gleichnamigen Kunststoffverarbeiters aus Oberösterreich, mündeten die Zweifel in einen Entwicklungsprozess, der das Organisationsmodell „Wurzeln & Flügel“ auf den Weg brachte. Was das Modell in dem Unternehmen mit rund 100 Mitarbeitern verändert hat, beschreibt er im Interview. 

Herr Filzwieser, warum haben Sie angefangen, die Art infrage zu stellen, wie Sie Ihr Unternehmen führen?
Ich bin irgendwann zu der Erkenntnis gekommen, dass sich die Paradigmen, nach denen wir wirtschaften, für uns Menschen nicht mehr gut anfühlen. Konkret habe ich dieses „Höher, schneller, weiter“ infrage gestellt, das ich selbst als gelernter Betriebswirt über Jahre gelebt habe. Unsere Wirtschaft ist nur auf Wachstum ausgerichtet und wir reflektieren das „Warum“ zu wenig. Dazu kommt das überproportionale Kopfdenken im Geschäftsleben, das Gefühl und Intuition zu wenig Raum gibt. Wir laufen mit Rollenmasken in den Unternehmen herum und das finde ich schade. Es gibt zu wenig Möglichkeiten, sich zu entdecken und Potenziale zu entfalten. Diese Überlegungen waren Auslöser für einen persönlichen Wertewandel, der über einen längeren Zeitraum ging. Dabei habe ich auch begonnen, den Blick auf mein Unternehmen zu verändern und einen anderen Weg einzuschlagen. Meine Frau war dabei ein wichtiger Sparringspartner für mich. Sie wirkt heute als Coach im Unternehmen und hat die Veränderungen wesentlich mit vorangebracht.  

Wie sahen die ersten Schritte der Veränderung aus?
Der allererste Schritt war, über die Identität des Unternehmens nachzudenken. Wir haben uns gefragt, wer wir sind und was uns ausmacht. Wir sind ein Lösungsanbieter auf dem Gebiet der Kunststofftechnik – und unser Anspruch ist es, unseren Kunden Mehrwert  zu liefern. Ganz wesentlich war für mich aber die Frage, warum wir das tun, was wir tun. Natürlich gibt es dabei die materielle Seite. Denn wir schaffen die Lebensgrundlage für die Mitarbeiter und mich. Aber andererseits soll die Arbeit uns auch Sinn und Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Das funktioniert aus meiner Sicht nur in Organisationen, in denen wir nicht über Hierarchien Grenzen aufbauen. Mir ist klar geworden, dass wir anders zusammenarbeiten müssen. Daher habe ich Handlungswerte definiert, um den Mitarbeitern Orientierung zu geben.

Können Sie Beispiele für diese Handlungswerte nennen?
Ich habe zum Beispiel gesagt, dass Wachstum nicht per se ein Ziel für uns ist. Wachstum kann geschehen, wenn Kunden uns ihr Vertrauen schenken. Aber wir wollen nicht zwanghaft wachsen. Denn das setzt ja immer das gleiche Spiel in Gang: Man muss neue Projekte und Kunden suchen,  investieren, Platz schaffen, neue Mitarbeiter finden. Wenn das mit zu großer Geschwindigkeit passiert, tut uns Menschen das nicht gut. Daher haben wir uns sogar eine Wachstums-
obergrenze gesetzt, um gar nicht erst nicht in Versuchung zu kommen.

Eine andere Überlegung war: Wenn wir Mehrwert schaffen wollen, müssen wir Kunden finden, die zu uns passen und unsere Werte teilen. Nicht jeder Kunde ist gut für uns. Dieser Blick auf den Kunden ist natürlich nur möglich, da wir nicht auf maximales Wachstum setzen.

Ihr Organisationsmodell heißt „Wurzeln & Flügel“. Wofür steht die Bezeichnung?
Die Beschäftigung mit der Organisation hat uns in eine Richtung geführt, in der wir uns viel mit Elementen des agilen Arbeitens befasst haben. Allerdings wollten wir nicht Gefahr laufen, mit anderen Systemen verglichen oder in einen Topf geworfen zu werden. Daher brauchten wir eine eigene Bezeichnung. Wir haben Begriffe aus der Natur gewählt, weil uns zunehmend bewusst wurde, dass wir als Organisation viel von der Natur lernen können – zum Beispiel, dass Vielfalt dabei hilft, auf Veränderungen zu reagieren.

In der Bezeichnung „Wurzeln & Flügel“ steht die Wurzel für die Identität, das Warum und die Werte des Unternehmens – also für jene Elemente, die nachhaltig sind. Die Flügel sind das Symbol für alle Elemente, die Freiraum, Individualität und Beweglichkeit bieten.

Wie schaut das Modell in der Praxis aus? Was hat sich dadurch zum Beispiel für die Mitarbeiter geändert?
Besonders einschneidend war, dass wir Hierarchien abgebaut haben, um uns in Richtung Eigenverantwortung und Selbstorganisation zu entwickeln. Mir war wichtig, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen. Daher habe ich auch die Tore der früheren Abteilungen geöffnet. Denn wir brauchen Vielfalt dort, wo sie gerade gefragt ist. Da geht es um Fähigkeiten und nicht darum, was auf dem Papier steht.

Wie treffen Sie heute Entscheidungen?
Das ganze Unternehmen ist in zwölf Verantwortungsfelder unterteilt. In jedem gibt es einen Feldverantwortlichen, der in seinem Bereich eigenverantwortlich entscheidet. Für Themen, die mehrere Felder betreffen oder größere Investitionen mit sich bringen, gibt es das „Wir-Feld“. Das ist ein Gremium von sechs Feldverantwortlichen, von denen ich einer bin. Das Wir-Feld entscheidet im Mehrheitsprinzip. Einen Geschäftsführer gibt es nach innen nicht mehr. Ich habe allerdings in meiner Rolle als Eigentümer in bestimmten Fällen ein Vetorecht als letzten Anker.  

Wie funktioniert das Arbeiten im neuen Modell?  
Wenn ein neues Thema aufkommt, dann schauen wir heute zuerst, wer etwas dazu beitragen kann. Das funktioniert recht gut. Aber eigenverantwortlich zu handeln, ist sehr herausfordernd. Denn das heißt auch, aus eigenem Antrieb in den Schmerz der Veränderung zu gehen. So sind wir nicht sozialisiert. Ein Handlungswert, mit dem wir uns immer noch schwertun, heißt beispielsweise: „Konzentriert euch auf weniges und geht kurze Wege zum Ziel“. Das war der Aufruf des Kapitäns zur Meuterei. Denn es geht darum, eigenmächtig alles zu lassen, was nichts bringt. Da tun wir Menschen uns generell schwer damit. Ähnlich herausfordernd ist die Kommunikation in der Selbstorganisation. Denn die Mitarbeiter müssen auch unangenehme Dinge selbst auf den Tisch bringen, ohne dem anderen zu vermitteln, dass er schlecht ist.

Auf kununu sieht man, dass einige Mitarbeiter das Modell ablehnend bewerten. Wie gehen Sie mit diesen Reaktionen um?
Die Einträge auf kununu schauen verheerend aus – und ich gebe zu, dass ich noch nicht ganz drüberstehe. Ich frage mich auch, ob das ein gezieltes Mobbing von wenigen ist, weil es sehr untergriffig formuliert ist und auf mich persönlich abzielt. Möglicherweise sind das auch Kommentare von Mitarbeitern, die uns längst verlassen haben. Das weiß man ja leider nicht. Jedenfalls werden dort Unwahrheiten verbreitet – und wir diskutieren, wie wir damit umgehen. Ich habe auch lernen müssen, dass die Leute, die sich wohlfühlen, nicht auf kununu das Wort ergreifen.

Wie erklären Sie sich die Angriffe?
Ich verstehe sie nicht, denn wir gehen sehr wertschätzend mit den Mitarbeitern um – und was wir hier tun, hat viel damit zu tun, einen Raum zu geben und Möglichkeiten zu schaffen. Aber wenn man etwas Gutes will, muss das nicht heißen, dass es immer positiv ankommt. Mir ist auch klar, dass ich nicht jeden Mitarbeiter erreiche. Am Ende muss jeder selber überlegen, ob er sich unter solchen Rahmenbedingungen wohlfühlt. Es gibt Menschen, die gleich mitgehen und sich toll entwickeln. Ich musste aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Entwicklung polarisiert. Ein ausgeprägtes Ego passt zu einer solchen Organisation zum Beispiel nicht. Diese Organisationsform hat auch sichtbar gemacht, dass nicht alle Leute, die vorher in der Organisation weit oben standen, die besten waren. Das war für mich eine erstaunliche Erfahrung.

Führen Sie das Modell fort?
Nach einem Jahr „Wurzel & Flügel“ haben wir unseren 20 engsten Mitarbeitern die Möglichkeit gegeben, darüber abzustimmen, ob sie das Modell fortsetzen möchten – und alle haben sich dafür ausgesprochen.

Lässt sich Ihr Modell auf andere Unternehmen übertragen?
Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Das muss aus einer inneren Haltung entstehen. Ich komme mit vielen anderen Unternehmen in Kontakt – und mein Eindruck ist, dass alle suchen. Einige Unternehmen entwickeln sich in Richtung Agilität und Selbstorganisation. Aber zum Teil ist das nur sehr halbherzig. Ich wundere mich zum Beispiel, wenn Leute Regeln für Agilität entwickeln. Das sind für mich Fehlentwicklungen von Kopfdenkern, die meinen, sie könnte auch diese Dinge steuern. Aber grundsätzlich bin ich überzeugt: Viele Unternehmen wird die Frage, in welche Richtung sich ihre Organisationen entwickeln, in Zukunft nicht nur fordern, sondern auch überfordern.

Dieser Artikel stammt aus der Fachzeitschrift personal manager Ausgabe 5/20 mit dem Schwerpunktthema: Was HR vom Marketing lernen kann

 

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