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„Ich will einfach nur sitzen”
Über die Unlust, mich und andere zu transformieren
Von Beraterin Julia Culen

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe gerade keine Lust mehr auf Transformation. Weder will ich mich selbst transformieren noch will ich von anderen, dass sie sich oder etwas transformieren sollen. Das ist zwar etwas gewagt für eine Beraterin, die die Begleitung von Transformationsprozessen anbietet, aber es ist zumindest mal ehrlich. Ich bin erschöpft. Ich bin müde. Müde von den dauernden Veränderungen und Transformationsappellen, die auf Optimierung abzielen.
Ständig sollen wir uns oder etwas weiterentwickeln, verbessern und umformen, anstatt einfach mal zu sagen: So, wie ich bin, so, wie es ist, so passt es mal. Es ist ja nicht so, dass wir es uns so ganz aussuchen können, wir immer eine Wahl hätten, ob wir uns transformieren wollen. Das Leben besteht nun mal aus Entwicklung und Veränderung. Man denke nur an den Prozess, einen Kuchen zu backen und dann zu essen. Von den ursprünglich Zutaten ist dann nicht mehr viel übrig, zumindest nicht in ihrem Originalzustand. So banal ist das mit der Transformation im Alltag.
Wir haben ohnehin keine Wahl
Als lebendige Wesen sind wir gezwungen, uns ständig an die sich ändernden Bedingungen anzupassen. Als ob das nicht schon anstrengend genug wäre, geben wir uns damit nicht zufrieden, sondern verlangen von uns, dass wir extra Anstrengungen unternehmen, um besser zu werden, um am besten jemand anderer oder wie jemand anderer zu werden. Und so formen wir gerne unseren Körper, unser „Mindset”, unser Team, unsere Organisation oder ganz einfach unser Leben um, sodass es optimal funktional, exzellent und effektiv ist. Und wir sodann unsere Ziele besser erreichen und noch glücklicher, erfolgreicher, reicher, schöner, bekannter oder bewusster werden.
Ich will einfach nur sitzen
„Ich will einfach nur sitzen” ist ein berühmtes Zitat von Loriot, mit dem ich aufgewachsen bin, zitiert vom Freund unserer Familie und Schauspieler Miguel Herz-Kestranek. Den Tonfall muss man sich in einer Mischung aus larmoyant, flehend, verzweifelt und erschöpft vorstellen. Ich weiß jetzt genau, wie das gemeint ist, nein, ich fühle es, ich spüre es ganz tief in mir und aus mir heraus.
Ich wünsche mir, dass sich gerade einmal nix verändert, dass ich mich auf das Leben, die Welt und das Wort der anderen einfach verlassen kann, ohne dass ich viel dazu tun muss.
Ich gehe in einen Transformationsstreik, die Transformation soll bitte ohne mich stattfinden.
Nach zwei Jahren Coronapandemie, unzähligen Zoom-Meetings, dem Aufbau einer neuen Beratungsfirma und dem noch immer nicht abgeschlossenen Bau einer kleinen Finca in Südspanien, zahllosen Diskussionen über Impfung, Corona, Krankheit, Viren, Reisebeschränkungen, Absagen von Reisen, Meetings und Konferenzen, allen Staffeln von „Haus des Geldes" und drei
mRNA-Impfungen bin ich müde. Ausgelaugt. Ich will jammern. Ich will mich am liebsten in die von meinem Ayurvedaarzt empfohlene dreiwöchige Panchakarma-Kur auf Sri Lanka begeben und mich den ganzen Tag massieren lassen, am Strand spazieren gehen und meditieren, wenn überhaupt.
Stabilität ist die neue Transformation
Transformation bis zu einem gewissen Grad ist unentrinnbar. ABER: Wir können das (ab-)wählen, was wir uns selber darüber hinaus an Transformation zumuten wollen. UND: Wir können uns sogar ein paar stabile Zonen im Leben schaffen. Stabil is the new Transformation. Stabilität ist eigentlich echt krass und radikal, wenn man es so recht bedenkt. Routine und Beharrungsvermögen war die längste Zeit etwas für Loser und ewig gestrige Veränderungsgegner. In Zeiten aber, die sich durch VUCA (volatile, uncerntain, complex and ambiguous) oder – noch schlimmer – BANI (brittle, anxious, non-linear und incomprehensible) – kennzeichnen, bekommt Stabilität eine andere Bedeutung. Ruhe, Friede, Stille, Ordnung, Verlässlichkeit sind die neuen Werte. Wir brauchen doch alle stabile schöne Orte, Beziehungen, Strukturen und Werte, die nicht herummorphen. Wenn sich das Leben schon anfühlt wie im Spiegelkabinett auf schwankendem Boden, wollen wir nicht auch noch einen Selbstoptimierungsworkshop aushalten.
Ich erlaube allen, die das wollen, sich nicht transformieren zu sollen
Ich möchte jetzt hiermit allen, die das wolllen, die Erlaubnis geben, sich nicht transfomieren zu müssen. Bitte, ihr seid alle ganz in Ordnung, versucht mal kurz, das zu sehen und zu schätzen, was ihr habt, was ihr könnt und wer ihr seid. Sagt euch: Wow, ich habe mich so angestrengt und viel geschafft und jetzt lass ich mal locker und höre auf, noch mehr von mir und anderen zu wollen. Ich bleib jetzt mal stehen und schau mich um, schau mich an, ich schau nach innen und nach außen und nehme wahr, was ist, anstatt zu überlegen, was sein soll, aber nicht ist.
Das ist echt deep.
Stabile Zonen statt Stabilität
Transformationsmanagement der Zukunft könnte tatsächlich so aussehen, dass wir im privaten Leben, in Teams und in Organisationen Zonen schaffen, die wie Trittsteine in einer sich bewegenden Umwelt sind.
Das können stabile menschliche Beziehungen sein, verlässliche Grundstrukturen in Organisationen, die Arbeit mit robusten Prinzipien, klaren und nachhaltigen strategischen Stoßrichtungen, einem orientierenden Purpose Statement. Auch wenn alles im Leben immer nur vorläufig ist, können wir durch Reduktion, Klarheit, Ruhe, Einfachheit und eigene Zuverlässigkeit selbst zu einer stabilen Zone für uns und andere werden.
In meiner Arbeit frage ich zunehmend, was sich nicht ändern soll, wo wir und die Kunden für eine relative Stabilität sorgen können, und welche Trittsteine wir legen wollen, die wir dann gemeinsam pflegen, immer wieder freilegen und anbieten.
Damit würden wir zwar nicht verhindern, dass sich die Welt ständig ändert, aber wir könnten einen bedeutenden Beitrag dafür leisten, einen gesunden Umgang damit zu finden.
Peace, love and happiness, meine lieben Leserinnen und Leser!
Eure Julia Culen
Dieser Artikel stammt aus der Fachzeitschrift personal manager Ausgabe 2/22 mit dem Schwerpunktthema: Performance Management