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Produktiv stören
Ein Projekt in Indien zeigt, wie Veränderung gelingen kann

Ulrike Reinhard bereist seit rund 30 Jahren die Welt und arbeitet mit Menschen rund um den Globus. In einem indischen Dorf baute die Autorin, Verlegerin und digitale Nomadin vor einigen Jahren einen Skatepark auf, der viele Veränderungen für die Dorfgemeinschaft anstieß und ein großes mediales Echo auslöste. Aus der privaten Initiative entstand die NGO The Rural Changemakers. Was Unternehmen aus diesem Projekt lernen können, beschreibt Reinhard im Interview.
Frau Reinhard, wie kommt man dazu, einen Skatepark in einem indischen Dorf aufzubauen?
Ich kam 2012 zum ersten Mal nach Indien, weil ich auf eine Konferenz in Delhi eingeladen war. Anschließend habe ich mir zwei Wochen Zeit genommen und bin quer durch das Land nach Bombay gereist, um von dort zurück nach Deutschland zu fliegen. Auf dem Weg dorthin kam ich durch Madhya Pradesh – und bin dort geblieben. Diese Gegend hat zwar eine reiche und intakte Natur, zählt aber zu den ärmsten in Indien. Ich kehrte in den folgenden Monaten immer wieder dahin zurück. Irgendwann hat mich jemand gefragt, ob ich in dieser Gegend etwas aufbauen will – und mir kam „Skateistan“ in den Sinn, ein Projekt in Afghanistan, das ich vor ein paar Jahren besucht hatte. Es ist eine Schule mit angrenzendem Skatepark. Damals war ich beeindruckt, wie die Teenagermädchen halbverschleiert mit den Skateboards rumfuhren. So kam die Idee auf. Als ich dann ein Grundstück mitten in dem Dorf Janwaar bekam, fing es an.
Warum ein Skatepark?
Ein Dorf in Indien ist ein sehr tradiertes, geschlossenes System, das nach Kasten getrennt ist und in dem Frauen nichts zu sagen haben. Wenn wir mitten in ein solches System ein komplett konträres stellen, wie einen Skatepark, dann muss etwas passieren. Das war meine Annahme. Denn die Skateboardingkultur ist das komplette Gegenteil von der Kultur, die in diesem Dorf
herrscht.
Wie haben Sie den Skatepark im Dorf eingeführt?
Wir haben diesen Raum zur Verfügung gestellt, es gab keine Zäune und alle waren eingeladen. Aber es gab Regeln, die heute noch gelten. Die eine lautet „No School, no Skateboarding“. Wenn die Kinder nicht in der Schule waren, dürfen sie nicht auf den Skatepark. Die andere Regel heißt „Girls first“. Damit haben wir zwei zentrale Problembereiche aufgegriffen, ohne sie direkt zu benennen: die Benachteiligung der Mädchen und den niedrigen Bildungsstand.
Die Anwesenheit in der Schule ist in solchen Dörfern in Indien minimal. Durch den Skatepark ging sie in Janwaar plötzlich zwischen 30 und 50 Prozent hoch. Die Dorfschule geht bis zur achten Klasse. Wenn die Kinder sie verlassen, können sie kaum lesen und schreiben. Schule ist daher ein großes Wort für das, was es ist. Aber es war uns wichtig, die vorhandene Lerninitiative zu unterstützen. Die Schule war dem Ansturm anfangs gar nicht gewachsen. Das hat sich über die Jahre geändert. Denn wir haben viele Leute in das Dorf gebracht, die mit informellen Lernmethoden vertraut sind. Von ihnen haben die Lehrer einiges übernommen. Jetzt gibt es zum Beispiel eine kleine Bibliothek und die Lehrer machen auch Yoga oder Spiele mit den Kindern.
Gab es im Dorf auch Widerstand gegen den Skatepark?
Widerstand gab es nicht. Die Menschen wussten erst nicht, was wir machen. Für die Kinder war das anfangs nur ein Spielplatz. Wir haben ihnen dann Skateboardvideos gezeigt – und auf einmal gab es in diesem Open Space eine Mischung von Kindern, die du sonst im Dorf nicht hattest. Denn in einem Teil des Dorfes leben die Yadav, eine untere Kaste. Im anderen leben die Adivasi, die Unberührbaren. Die Kinder der unterschiedlichen Kasten essen und reden nicht miteinander. Aber jetzt gab es diesen Platz, wo sie zusammen mit dem Skateboard fuhren und spielten.
Wie kam es dazu?
Zum einen habe ich als Beobachterin darauf geachtet, dass die Adivasi-Kids auch ihren Platz haben und dass alle die Regel „Girls first“ einhalten. Aber das Vermischen der Kinder hat sicher auch mit der sehr starken Kultur von Skateboarding zu tun. Das Umfeld hat ebenfalls eine Rolle gespielt. Heute weiß ich, dass der Ältestenrat im Dorf über das Projekt gesprochen hat und dem Ganzen ein „Go“ gegeben hat. So konnten aus dem Skatepark mit der Zeit neue Projekte entstehen.
Welche Projekte waren das?
Der Skatepark hat ein starkes mediales Echo in Indien ausgelöst. Daraufhin haben uns Initiativen und Einzelpersonen besucht und mit den Kindern gearbeitet. So ist bei einigen Kindern so etwas wie eine Lerngier entstanden. Wir haben über ein Assessment fünf Kinder ausgewählt, mit denen wir neben der Schule gearbeitet haben, um ihnen Soft Skills zu vermitteln. Das Ziel war, sie in die Lage zu versetzen, die Probleme im Dorf selbst zu lösen. Vor eineinhalb Jahren haben diese Kinder ihr eigenes NGO gegründet – The Barefoot Skateboarders.
Was ist daraus entstanden?
Sie haben eine eigene Schule in einem „Community Center“ aufgebaut, losgelöst von der Dorfschule. Die Kids binden Leute aus dem Dorf ein – zum Beispiel einen Mann, der sehr gut Flöte spielt und heute Flötenunterricht für Kinder gibt. Wir haben einen Fahrradverleih und es sind Homestays entstanden, also Übernachtungsmöglichkeiten bei Familien, die deren Einkommen verdoppeln. Auch die Situation der Mädchen hat sich spürbar gebessert. Sie werden beispielsweise deutlich seltener in der Öffentlichkeit belästigt.
Was können Unternehmen von diesem Projekt lernen?
Wenn Unternehmen kulturelle Veränderungen anstreben, sollten sie im System selbst operieren. Es macht keinen Sinn, isolierte „Labs“ zu schaffen, die Innovationen vorantreiben. Denn so etwas spaltet Organisationen. Die Basis sollte vielmehr so breit wie möglich sein, damit viele Menschen die Veränderungen tragen.
Klare Regeln sind ebenfalls notwendig. Aber damit meine ich nicht, Zielvorgaben zu definieren. Denn die engen zu stark ein. Wir hatten die Vision, dass wir aus dem Dorf einen lebensfreundlicheren Platz machen wollen. Aber wir haben nicht gesagt, wie wir das erreichen wollen, sondern sind den Weg mit den Dorfbewohnern gegangen. Das Ganze ist organisch gewachsen.
Man muss sich klar machen, dass Wandel nur schrittweise erfolgen kann. Alle Beteiligten müssen bereit sein, Kompromisse einzugehen, und lernen, mit Rückschlägen zu leben.
Ganz wichtig ist auch, sich bewusst zu werden, dass die Menschen unterschiedliche Perspektiven auf die Dinge haben. Diese müssen wir einfach zulassen, auch wenn sie zu Reibungsfaktoren werden. Reibungen können auch produktiv sein.
Zuletzt sollten wir uns klar darüber werden, dass jeder ersetzbar ist – und das ist auch gut so. Gerade in kulturellen Veränderungsprozessen übernehmen Menschen plötzlich Aufgaben, die gar nicht zu ihrem Portfolio gehören. Aber warum sollten sie das nicht tun dürfen? Solche Veränderungen muss ein System zulassen können.
Interview: Bettina Geuenich
Foto: Ulrike Reinhard
Dieses Interview stammt aus der Fachzeitschrift personal manager Ausgabe 2/21 mit dem Schwerpunktthema: Gesundheitsmanagement in der Pandemie